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AutorenbildSarah Kunst

Fragwürdige Schullektüre - Erebos von Ursula Poznanski

Aktualisiert: 8. Dez. 2022

Seit Jahren wird der Roman Erebos von Ursula Poznanski als Schullektüre ausgewählt und mit den Klassen gelesen. Ein Roman, den man kritisch bearbeiten könnte, um stereotypische, sexistische und rassistische Darstellungen zu hinterfragen. Das passiert nicht. „Seltsam, oder?“ (2)

Ich quälte mich durch 489 Seiten und versuchte, die stereotypischen, rassistischen und sexistischen Darstellungen der Autorin mit dem Erscheinungsjahr zu entschuldigen, um den Roman anschließend im Lehramtsseminar kritisch zu besprechen. Das passierte nicht. „Seltsam, oder?“ (3)


Der Roman.

Der Roman ist „seltsam“ (4) sexistisch und rassistisch. Während männliche Figuren sportlich sind, die Geschichte voranbringen und als Polizist oder Lehrer arbeiten, werden weibliche Figuren vom männlichen Protagonisten, einem 17-jährigen Schüler, und anderen männlichen Figuren beschrieben.

Demnach sind Mädchen und Frauen „fett“, „geschwätzig“ (5), „strohdumm“ (6), manchmal hübsch und einmal emotional, weil sie ihre Tage haben.

Eine Mitschülerin habe keinen „schmalen Elfenrücken“ (7), sondern einen trainierten Rücken vom Schwimmtraining und natürlich „Beine, die lang waren und sehnig und …“ (8). Darleen ist „die schnucklige Blonde aus dem Schulorchester.“ (9) Brynne ist „hübsch, ohne Zweifel, aber vor allem war sie geschwätzig“ (10) sowie „strohdumm“ und „stöckelte hüftschwingend“ (11). Helen, eine weitere Mitschülerin, scheitert – laut dem Protagonisten - daran, „ihre Müdigkeit zu überschminken. Ein Versuch, der bei Helen nicht den geringsten Sinn gehabt hätte. Ihr Anblick war noch nie erfreulich gewesen, doch heute schlug er alles bisher Dagewesene.“ (12) Die Mutter des Protagonisten ist eine „Chaos-Mum“ (13) mit Lockenwicklern im „Dauerwellen-Großeinsatz“ (14), die nur Frauen- und Frisur-Zeitschriften liest, Rotwein trinkt und Fertiggerichte zubereitet (15,16). Seltsam, oder? (17)


Neben den stereotypischen Darstellungen werden auch sexuelle Belästigungen beschrieben. Ein Freund des Protagonisten „klapste dem fülligen Mädchen, das sich eben an ihm vorbei in die Klasse zwangen wollte, kräftig aufs Hinterteil.“ (18) „Finger weg Arschloch“, wehrt sich die Mitschülerin und der Täter antwortet: „Aber ja. Obwohl es mir bei deinem Anblick echt schwerfällt. Ich stehe wie verrückt auf Pickel und Fettschwarten!“ (19) Wichtig war wohl zu erwähnen, dass das Mädchen „füllig“ ist. (20) Zumindest erfahren wir von Helen mehr als von Zoe, denn sie ist und bleibt „die Dicke, aus der Siebten.“ (21) Auch der Vater des Protagonisten verbreitet internalisiertes Bodyshaming. Er beschwert sich über Patienten, die „sich schon ins Krankenhaus gefressen haben“ (22).

„Vielleicht kriegt sie bloß ihre Tage“, meint ein Schüler, weil eine Mitschülerin emotional reagiert (23). Die Lehrer wirft diesem Schüler einen Blick zu und der Protagonist berichtet, dass er nun verstehen würde, „warum manche der Mädchen sich vor der Englischstunde die Lippen nachzogen.“ (24)

Seltsam, oder? (25)

Weibliche Figuren werden auf Äußerlichkeiten reduziert, "gute" Figuren sind hübsch, "böse" Figuren nicht. Stereotypisch verliebt sich der Protagonist in das hübsche Mädchen. Auch rassistische Äußerungen werden reproduziert. So überlegt der Protagonist: „Wäre seine Haut nicht so dunkel gewesen. Nick hätte schwören können, dass er rot angelaufen war.“ (26) Eine Mitschülerin ist nicht nur „geschwätzig“ und „strohdumm“, sondern riecht auch „orientalisch“ (27, 28, 29).


Auffällig ist Darstellung einer Vergewaltigung, die von einer Mitschülerin erfunden wird. Lehrkräfte und Schüler:innen erfahren von ihrem Vorwurf, den ein Mitschüler so beschreibt: „Wollte der Türkentussi unter den Rock“ (30). Daraufhin sucht ein Lehrer das Gespräch mit irgendeinem Schüler und erklärt: „Ich finde das, was mit Eric passiert ist, schon schlimm genug. Natürlich kannst du jetzt sagen, dass er selbst schuld ist, wenn er Aisha belästigt. Aber Aisha will nicht zur Polizei gehen. Um keinen Preis. Seltsam, oder?“ (31)

Seltsam, oder? (32) - dass wir einen Roman behandeln, in dem der Opferschutz infrage gestellt wird, weil dieBetroffene nicht umgehend zur Polizei geht. Der Protagonist weiß und profitiert von dieser erfundenen Vergewaltigung. Diese Ereignisse nie wieder erwähnt.


Erste Seminarstunde.


Im Seminar bat ich die Anwesenden, ihre Gedanken zu den klischeehaften, rassistischen und sexistischen Darstellungen zu teilen. Sie haben keine gefunden. Auch der ausgebildete Lehrer und Leiter des Seminars, der den Roman seit Jahren mit seinen Schulklassen bearbeitet, sieht kein Problem. Dies mag daran liegen, dass er an „das Problem der Reproduktion von [sexistischen und rassischen] Motiven und Äußerungen“ nicht glaubt, denn gäbe es diese Wirkung, hätten wir eine aufgeklärte Gesellschaft, weil wir ja so viel „Gutes“ lesen würden. Ich überlege noch, ob ich diese Argumentation hinterfrage, behalte meine Fragen aber für mich.Nach den Lobeshymnen meiner Mitstudierenden, die nicht wissen möchten, warum ich den Roman problematisch finde, wiederhole ich meine Gedanken. Ein Kommilitone meint, der Roman sei kein Problem, wenn diese problematischen Passagen thematisiert werden. „Ja, könnte sein", erwidere ich, „die Passagen werden in den Schulen aber nicht thematisiert.“ Meine Aussage wird vom Seminarleiter bestätigt. Der Roman wird gelesen, um mit Schüler:innen über KI und Computerspielsucht – bzw. das, was sich eine Autorin im Jahr 2010 darunter vorgestellt hat – zu sprechen. Die stereotypischen Darstellungen und das sexistische, diskriminierende und rassistische Verhalten der Figuren werden nicht besprochen.


Schließlich behaupten meine Mitstudierenden, dass Jugendliche halt so (sexistisch, rassistisch und diskriminierend) denken und handeln würden. Dieser Sein-Sollen-Fehlschluss, der auf den Erfahrungen und dem stereotypischen Denken der Anwesenden basiert, wird dann im Seminar verwendet, um den Roman zu rechtfertigen.Unsere Lehrkraft beendet das Seminar mit der Feststellung, der Roman sei „schlecht gealtert“, er würde ihn nicht mehr verwenden.

Ich gehe leider davon aus, dass die Anwesenden diesen Roman mit ihren Klassen lesen werden, um die Gefahren der Computerspielsucht zu thematisieren – dieser Verdacht wird den angehenden Lehrkräften, die vollkommen begeistert sind, bestätigt.


Zweite Seminarstunde.


Die nächste Seminarstunde beginnt mit einer Klarstellung der Seminarleitung. Es sei ihm wichtig, seine Aussage einzuordnen, denn man hätte diese falsch verstehen können. Er werde den Roman nicht mehr lesen, weil er – nach all den Jahren – langweilig geworden sei, aber der Roman könne natürlich weiterhin gut verwendet werden.


Letzte Woche noch „schlecht gealtert". Heute wieder Schullektüre.

„Seltsam oder?“ Oder nicht? (33)


 

Quellenangaben:

  1. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.

  2. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.

  3. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.

  4. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.

  5. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 27.

  6. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 27.

  7. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 17.

  8. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 17.

  9. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 124.

  10. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 27.

  11. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 27.

  12. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 203.

  13. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 15.

  14. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 25.

  15. Vgl. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 7.

  16. Vgl. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 72.

  17. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.

  18. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 14.

  19. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 14.

  20. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 14.

  21. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 232.

  22. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 120.

  23. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 212.

  24. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 212.

  25. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.

  26. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 11.

  27. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 27.

  28. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 27.

  29. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 27.

  30. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 258.

  31. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 258.

  32. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.

  33. Ursula Poznanski. 2010. Erebos. 17. Aufl. Loewe Verlag, S. 279.



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